Freundschaft und Sterben

Ein älterer Mönch in Plum Village fragte uns am Anfang eines Gruppengesprächs: „Was ist Liebe?“ Wir, die zwanzig Anwesenden sprachen zwei Stunden alles aus, was uns einfiel. Am Ende unseres Kreises dankte der ältere Mönch uns für die vielen Einsichten und sagte: „All das und … Dasein. Für Liebe musst du Dasein.“ Er lies uns lange in der Stille verweilen. Alle weisen Worte und das ‚Dasein‘ verschmolzen zu einem Geist gefüllt mit Liebe. Ein wunderbares Gefühl.

Anfang dieser Woche hatte ich mich eingestellt auf die erste Etappe des Schreibens am Buddhayoga-Buch. Fünf Tage freigestellt von allen anderen Themen und Aufgaben. Nur schreiben. Ich hatte Raum geschaffen in meinem Büro, um die Worte über Tische und Wände ausbreiten zu können. Ich hatte Raum geschaffen in meinen Geist, damit ich alle aufkommenden Gedanken an andere Themen unberührt vorbei ziehen lassen könnte. Der Überblick über das Buch war schon skizziert. Vor einer Woche hatte ich einen Tag in Berlin verbracht, zusammen mit der Buddhayogini, die uns beim Schreiben des Buddhayoga-Buches hilft. Nichts könnte dem lang ersehnten Schreiben jetzt noch im Wege stehen.

Um diesen offiziellen ‚Übergang‘ bewusst zu erleben, ging ich mit Kati raus für einen langen Spaziergang. Es fühlte sich ein bisschen an wie Urlaubsbeginn, oder die letzte Stunde vor einem gut vorbereiteten Examen.

18:45, eine dreiviertel Stunde Laufdistanz vom Haus ruft mein Freund Jeroen an. „Patricks Familie hat mit den Ärzten entschieden, seine Behandlung zu beenden. Was soll ich tun?“ Patrick hatte vor fast zwei Wochen eine Gehirnblutung bekommen. Er lag seitdem auf der Intensiv-Station. Jeroen hatte ihn täglich besucht und mir über die Entwicklungen geschrieben. Erst vor zwei Tagen hatte ich die Hoffnung auf Heilung aufgegeben. „Was soll ich tun? Um 21:00 wird die Beatmung und Medizingabe abgestellt, das Sterben kann Minuten, Stunden oder einige Tage dauern. Ich habe so was noch nie erlebt. Die Eltern sind älter und vielleicht nicht in der Lage, nachts über Patrick zu wachen.“

1995 ist der Mensch, der mir seit 15 Jahren am liebsten war, in meinen Armen gestorben. Seitdem war ich mehrmals im Moment des Sterbens anwesend. Ich erlebe bei einem Kranken, Sterbenden oder Verstorbenen keine starken Berührungsängste. Vor kurzem leitete ich zum ersten Mal eine Trauerfeier und Urnenbeisetzung. Der Umgang mit dem Tod ist mir ein sehr wertvoller Aspekt des Lebens geworden. Kati sagt über Beerdigungen; „Ich mag Beerdigungen. Die Menschen sind endlich mit ihren Gefühlen da.“

Obwohl dies eine sehr persönliche Geschichte ist und ich nicht so sehr über Achtsamkeitspraxis schreibe, sondern vielmehr einfach meine privaten Erfahrungen teile, habe ich doch entschieden, diesen Text in unserem Buddhayoga-Blog zu veröffentlichen.

Ich antworte Jeroen; „Wenn du denkst, dass du das kannst, solltest du da sein und über Patrick wachen. Wir wissen nicht, wie viel Bewusstsein da ist bei Patrick. Wir wissen nicht, was er wahrnimmt oder erlebt. Er sollte – wenn möglich – nicht alleine gelassen werden.“ Ich spürte Jeroens Unsicherheit. „Geh hin.“ flüsterte Kati mir zu. Wie so oft hatte sie genau Recht.

Alleine wäre ich nicht gegangen. Jeroen ist einer von den drei Jugendfreunden, die ich und die mich bedingungslos im Leben begleiten. Patrick kenne ich seit 1983 über Jeroen. Patrick und ich waren mehrmals zusammen auf Reisen, er hat mir mehrmals geholfen beim Umziehen. Wir waren Freunde, aber nicht beste Freunde und beste Freunde haben mit der Familie die erste Verantwortung am Sterbebett. Ich reiste vor allem an, um Jeroen zu unterstützen.

Kati und ich nahmen die Schwebebahn, um schneller Zuhause zu sein. Wie ein eingespieltes Team bereitete ich ‚den Adriaan‘ und Kati sein Gepäck für drei Tage vor. Dann zwei Stunden Autobahn. Die ganze Fahrt über sang ich buddhistische Mantren, um völlig ausgerichtet zu sein auf das Kommende.

Namo Tassa Bhagavato Arahato Sammāsambuddhassa“  

„Buddhaṃ saraṇaṃ gacchāmi. Dhammaṃ saraṇaṃ gacchāmi. Sanghaṃ saraṇaṃ gacchāmi.“

und „Gate gate Pāragate Pārasamgate Bodhi svāhā.“

Ich war gerade noch zur rechten Zeit da. Am Bett standen Patricks Eltern, Jeroen und Patricks Freunde Koen und Mario. Nach der Begrüßung setzte ich mich an die freie Seite von Patricks Bett, nahm seine Hand und seinen Arm und öffnete mich für ihn, verband mich mit dem sterbenden Freund.

Die Ärzte kamen, erklärten was sie tun würden und nahmen einen nach dem anderen die Schläuche weg und schalteten die Apparate aus. Als der Schlauch aus seiner Nase gezogen wurde, stockte Patrick, hob seine Brust und Kopf, drückte Luft tief aus seiner Lungen. Eine sehr kranke Luft füllte den Raum. Mir wurde schwindlig, Jeroen gab mir einen Stuhl. Ich blieb in Berührung mit Patrick. Hielt ihn. „Es ist alles gut. Du brauchst nur noch los zulassen.“, sprach ich ihm leise zu. So sprach jeder von uns seine Gedanken, Fragen und Gefühle aus. Eine Stunde lang war spürbar, wie er um Atmung, Herzschlag rang. Dann wurde seine Atmung und sein Herz stabil. Flach und schnell, ruhig.

Anfang der Nacht brachte Mario die Eltern nach Hause. Auch Koen musste am Morgen wieder arbeiten und brauchte seinen Schlaf. Wir sind alle keine zwanzig mehr und brauchen unsere Nachtruhe, um durch die Woche zu kommen. Jeroen und ich bekamen beide einen komfortablen Sessel und stellten uns ein auf eine Nacht am Bett.

Mit Patrick an der Hand sprachen wir in dieser Nacht das ganze Leben durch. Ab und zu kam jemand von der Pflege um zu fragen, ob alles ok war. Einmal auch, weil wir so herzlich und laut gelacht hatten. „Das erleben wir hier nicht so oft.“

Morgens kam Patricks Vater zurück. Jeroen und ich blieben noch ein Stündchen mit diesem sehr besonderen Mann in seinem unbeschreiblichen Leid und gingen dann ins Bett.

Im Nachmittag waren Jeroen und ich wieder da, um Patricks Vater abzulösen. Patricks Puls war schneller, seine Atmung schwächer. Er war geschwitzt, erschlafft. Freund Erwin war auch da. Der Vater ging mit der Mitteilung, dass er Mitternacht wieder da sein würde. Mit Tränen in meinen Augen hörte ich ihn sagen: „Patrick darf nicht alleine gelassen werden.“ Jeroen und ich versprachen, in dieser Nacht die Wache mit Patricks Vater zu teilen.

Eine Stunde später waren Erwin und ich in einer Diskussion über das, was uns seit Jahrzehnten unterscheidet: Sind wir ‚der Denker‘ und ist Bewusstsein etwas, was wir im Denken erfahren (Erwin) oder, ist Denken einer von vielen möglichen Inhalten die im Bewusstsein wahrnehmbar werden (ich).

„Er geht.“, rief Jeroen uns zurück ans Bett. Ich sah wie sich Patricks Farbe veränderte. Mit einer Hand an seinem Puls und einer Hand auf seinem Herz verweilte ich mit dem verfließenden Leben. „Gegangen, gegangen, den ganzen Weg gegangen. Mit allen Lebewesen den ganzen Weg gegangen. Großes Heil.“ Ganz spontan kam das Mantra in mir auf.

Ich schloss Patricks Augen, strich sein Gesicht glatt, machte es sauber und schloss seinen Mund. „Danke.“ sagte Erwin. Ich sah Jeroen an. Tränen, eine ruhige Dankbarkeit, Stille.

Dann kam ein Pfleger rein. Er lies uns allen Raum, um mit Patrick zu verweilen. Ein Arzt kam, um den Tod festzustellen. Jeroen begann, die Familie und die Freunde zu informieren. Erwin holte die Eltern ab. Ich durfte im Raum bleiben als die Pfleger Patricks Leichnam frei machten und säuberten.

Wir haben nichts gemerkt von Arbeitsdruck oder anderen Spannungen in der Intensiv-Station. In aller Ruhe, ganz aufmerksam, respektvoll und sehr hilfsbereit uns gegenüber, haben Ärzte und Pfleger einen Raum geschaffen, in dem Patrick mit uns sterben konnte. Mit Tränen von Dankbarkeit habe ich mich beim Team bedankt. Später hob Patricks Mutter zwei Daumen und dankte dem Team.

‚Es ist vollbracht.‘ 19 Stunden hat Patrick aus eigener Kraft weitergelebt. Zwei Wochen lang hatte auf der Intensiv-Station Schlaganfall nach Schlaganfall sein Gehirn geschädigt bis keine Hoffnung auf Besserung mehr da war.

Nach den Formalitäten brachten Jeroen und ich Patricks Eltern und seine Patentante nach Hause. Bis Mitternacht sassen wir zusammen und redeten.

Jeroen: „Wir machen ein Andenken für seine Tochter. Damit sie von den Freunden ihres Vaters einen Einblick bekommt, wer ihr Vater für uns war.“ Wie so oft, hatte Jeroen wieder mal einen brillanten Gedanken. „Bitte auch für mich.“ sagte der Vater. „Patrick hatte ein für uns geheimes Leben. Ich wusste nicht, dass Patrick solche Freunde und Freundschaften hatte.“ Jeroen und ich taten was wir konnten, um den Eltern an diesem langen Abend einen Einblick zu geben, in das, was sie Patricks ‚geheimes Leben‘ nannten. Auch sprachen wir über die Beerdigung und unterstützten die Eltern, um Klarheit zu bekommen über eine Zeremonie, die der Familie und die den Freunden am besten dienen würde.

Ich lebte schon seit Jahrzehnten mit einer Frage bezüglich dieser Familie. „Wie ist es möglich, dass die Beziehung zwischen zwei solch lieben und vernünftigen Eltern und so einem besonderen Sohn, so distanziert sein kann? Im Laufe des Abends entstand ein Gespür für die Gründe.

„Was kann ich tun, um den anderen Patrick kennen zu lernen?“ fragte sein Vater. „Höre seine Musik.“ Jeroen und ich hatten auf Patricks Sterbebett Miles Davis gespielt. „Grausame Musik. Wie kann man sowas schön finden?“ hatte seine Mutter gefragt. Ich nahm mir in dem Moment vor, den Eltern später zu schreiben. Ihnen so einen späten Zugang zu der Musik und dem Leben ihres Sohnes zu verschaffen.

Das Leben ist so reich wenn man sich die Zeit nimmt, es zu erfahren.

Wieder einmal ist mir klar geworden, dass Buddhayoga kein Unternehmen ist. Mein Handeln in Buddhayoga ist keine Arbeit. Ich lebe das Satipatthana Sutta und richte mich aus auf das Buddhadharma. Ich übe nicht nur alleine sondern auch mit anderen. Kati und ich, wir ‚arbeiten’ nicht, um einen Umsatz zu generieren, eine Dienstleistung zu erbringen oder irgendetwas zu bewirken, sondern wir leben in Buddhas drei Juwelen.

Ich nehme Zuflucht zu Buddha, der mir den Weg zeigt, aufzuwachen in diesem Leben.

Ich nehme Zuflucht zum Dharma, der Weg zur Befreiung im Leben

Ich nehme Zuflucht zur Sangha, der Gemeinschaft von Übenden auf dem Weg des Erwachen.

In drei Tagen werden wir Patricks Leichnam zu seiner ewigen Ruhestätte in der Natur tragen. Seine Eltern haben mich gefragt, am Grab über den Übergang zu reden. „Etwas Spirituelles.“

Vielleicht: „Alles was wir wahrnehmen hat die gleiche Natur, es kommt auf, ist eine Weile da, und vergeht wieder. Wir sind nicht diese Eindrücke, wir sind nicht das, was mit diesen Eindrücken räsoniert, sondern sind endlos viel grösser, unberührt, reines Bewusstsein. Und auch das kommt auf, ist eine Weile da, und vergeht wieder. So gibt es kein Kommen, kein Vergehen. Kein ich, keinen anderen.“ Sowas??? Ich werde es dem Moment überlassen. Erstmal den Sarg zum Grab tragen mit seinen Freunden. Seine Freunde und seine Familie sehen, spüren was ansteht. Die Wörter werden kommen. Ich kann besser spazieren gehen, als einen Vortrag bedenken.

Weiterlesen: Die Beerdigung

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