Plötzlich ist der riesige Felsblock weg

Liebe Kati und lieber Adriaan,
ich möchte euch gerne einen kleinen Nachklang zum Vipassana-Retreat senden. Es hat jetzt genug Alltagszeit gegeben, um zu spüren, wie und wann es läuft und wie und wann es nicht “rund läuft” – und es ist erfreulich, beides wahrnehmen zu können!
Es hat sich gezeigt, dass diese große, über Jahre festgezurrte Verspannung aus Wut, Hilflosigkeit, Nicht-Wahrhaben-Wollen, Empörung und Verachtung für mein Arbeitsumfeld weg ist – und offenbar auch weg bleibt. Das ist so eine Erleichterung. Als hätte jemand einen riesigen Felsblock von meiner Türschwelle weggeräumt oder als hätte jemand freundlich das Brett vor meinem Kopf abgenommen.

Der Arbeitsplatz ist damit nicht spaßig oder nett geworden, aber ich kann besser wahrnehmen, was da mit mir passiert, d.h. wie das Reptilienhirn reagiert. Ich erwische den Spalt noch nicht, vermutlich, weil das ganz alte Muster der Traumabewätigung sind, die da am falschen Platz aktiv sind, aber ich bin zeitlich näher dran. Ich übe und hoffe, den Spalt auch mal zu erwischen. Ich bin zuversichtlich, dass das noch kommen wird. Was mir aber oft gelingt ist, mich zu beruhigen. Ich atme ein, ich atme aus und verweile z.B. vor dem Faxgerät, bis der Sendebericht gedruckt ist. Die Achtsamkeitsmomente auf der Arbeit pflege ich nicht systematisch, dazu ist der Druck und das Tempo zu groß, aber es gibt viele verstreute Momente über den Tag hinweg, die sich sicher mal zu einem Netz verweben werden, das mich im Arbeitsalltag halten kann.
Was mich sehr glücklich macht ist, dass ich seit der Rückkehr vom Berg frisch und dankbar spüre, wie sehr ich im Privaten gut aufgehoben bin in einem Kreis von Menschen vom Typ Homo Sapiens. Zu dritt Spazierengehen im zart-sonnigen Tal und gemeinsam Schweigen und später, an einer schönen Stelle, an der wir uns niedergelassen haben, sanft tönen, weil der Himmel so blassblau ist und das Moos so grün und alles so bereit ist, wieder aufzubrechen. Oder am anderen Wochenende mit anderen Freunden, am Küchentisch sitzen und Käsesahnetorte essen und es wird nicht gequatscht, weil es das nicht braucht und die Torte so lecker ist. Und bei dem Geburtstagsabendessen für meine Tochter in der Patchworkfamilie, Friede und Wohlwollen und Freude an den groß werdenden Halbschwestern. Ich spüre den Frieden und die Freude solcher Momente tiefer und bin so, ach, omomom!
Ich habe seit Anfang Februar eine Psychotherapie begonnen, bei einer Traumatherapeutin. Gestern hatte ich meine zweite Stunde bei ihr. Ich glaube, da habe ich eine gute Begleiterin gefunden. Die Besuche bei ihr empfinde ich als gute Ergänzung zu meinem Üben mit der Achtsamkeit. Sie deutet meine Beobachtungen und Eindrücke aus der Konfliktzone Arbeit psycho- und traumatherapeutisch, aber ihre Sprache ist von Adriaans Sprache gar nicht so weit weg. Gestern sagte sie mir: “Erwischen Sie die Momente, wenn Sie dissoziieren.” Das heißt nichts anderes als: “Erwische den Spalt, in dem Du die instinktive Reaktion auf einen Reiz verzögern kannst, um bewusst zu handeln.” Sie fordert mich auch immer wieder auf, das, was ich als alte Regelkreise meiner Reaktionen wahrnehme und erlebe, bewertungsfrei stehen zu lassen und in Verbindung dazu zu bleiben – also: zu verweilen bei dem, was ist.
Meine Inseln sind morgendliche 10 Minuten Sitzen, nachdem meine Tochter aus dem Haus ist und bevor ich zur Arbeit los muss. 10 Minuten Minimediation. Und abends versuche ich dafür zu sorgen, dass ich ruhig werde, um dann ein ruhiges (handyfreies) Umfeld um das Kochen und Abendessen zu schaffen, in das sich meine Tochter gerne hinein begibt. Das klappt mal besser, mal schlechter, aber wir sind unterwegs.
Ich fühle mich sehr gestärkt und hoffnungsvoll nach dem Vipassana mit euch und bin sehr dankbar, dass ihr mir diese wichtige Erfahrung ermöglicht habt.
Herzliche Grüße
von X.Y.

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